Ich. Und Du.

Als ich das damalige Schuljahr 1992-93 an der CBC High School in St. Louis, Missouri, in den USA verbrachte, forderte uns eines Tages unser Lehrer im Fach “Living The Message” (so hieß einer der kath. Religionskurse), doch mal zehn Sätze aufzuschreiben, die mit “I am a” beginnen und jenseits von körperlichen Merkmalen unsere Identität beschreiben, also die persönliche Darstellung des je eigenen Selbst.

Wie viele andere gelang es mir damals nicht, zehn Sätze zu finden. Wer bin ich?

Laut dem Editorial der aktuellen Ausgabe des Magazins Psychologie heute scheint es ein “Identitätsmerkmal” der Postmoderne zu sein, dass es sichere Identitäten des einzelnen Menschen kaum noch gibt.
Entgegen früherer Zeiten kann sich der einzelnen nicht mehr so leicht gewissen Weltanschauungen, Herkünften, Kulturen etc, eindeutig zu ordnen, da es, und das ist meine Beobachtung, auch als quasi “unanständig” gilt, sich “zu identifizieren” und somit abzugrenzen gegenüber anderem. Abgrenzung wird von denen, die eine eigene klare Identität nicht finden können oder wollen, als Abwertung tituliert bzw. bewertet.

Somit wird die Identitätsfindung noch erschwert.

Die Krise der klarten Identität ist meines Erachtens die tiefere Grundlage einer Vielzahl von Problemen. So weiß der Nationalist eben sehr gut, wer er (allerdings nur in diesem Bereich) ist, gibt dem ganzen aber im Gegensatz zum Patrioten eine hierarchische Wertung. Der weltanschauliche Extremist weiß auch bei Religion und Co. um sich selbst, ebenso mit einer Wertung gegenüber anderen, meint aber oftmals, besonders kritisch bei Religionen, diese gleichsam zu “besitzen”.

All dies gibt es, doch kann man durchaus seine eigene Identität kennen, ohne andere zu (be-)werten. Dies allerdings erscheint dem postmodernen Identitätspluralisten als sehr unwahrscheinlich und geradezu verdächtig. So wird ein “Ich bin ein” zu einem “Ich bin als … besser als…” interpretiert. Man misstraut Menschen, die sich kennen. Besonders in nichtwestlichen Kulturkreisen, wo diese Identitätskrise noch nicht so gilt, meint der Postmodernist an jeder Ecke Extremisten zu sehen.

Gerade aufgrund der Krise der Identität, denn trotzdem weiß die Mehrheit gerne, wer sie ist, wird meines Erachtens auch im Westen die Religiösität eine Renaissance erleben - in der Hoffnung, dass man sich der Unbesitzbarkeit bewusst wird und bleibt.

Übrigens: mittlerweile kann ich zehn Sätze mit “Ich bin ein” mit Inhalt füllen.





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