Schon früher hatte ich mal nachgefragt, warum denn Matthäus nicht der Verfasser des gleichnamigen Evangeliums gewesen sein soll.
Nun ist es ja so, daß insbesondere bei dem fleißigsten Schreiber des Neuen Testamentes, dem Hl. Paulus, bei einigen Schriften seine Autorenschaft angezweifelt wird.
Es gibt da sogenannten Deuteropaulinen, das heißt Schriften, die von einem Zweiten (deutero) stammen sollen, der sich als Paulus ausgibt (kann bei jedem dieser Briefe ein anderer Zweiter sein).
Soweit die gängigen Thesen der historisch-kritischen Exegese.
Als Beispiel, da dieser mich gerade beschäftigt, sei der Brief an die Epheser genannt.
Von diesem wird wird dort geschrieben:
Hinter der Bezeichnung “Epheserbrief” steckt schon die erste Schwierigkeit. Das [”en Ephéso”] aus Eph 1,1 ist nämlich textkritisch unsicher und fehlt in einer ganzen Reihe von Handschriften.
Aufmerken lässt auch die Bemerkung in Eph 1,15. Dort bringt Paulus zum Ausdruck, dass er vom Glauben der Adressaten lediglich gehört habe. Und in Eph 3,2 erweckt er den Eindruck, als haben die Adressaten vielleicht von seinem Amt gehört. Solche Aussagen sind in Bezug auf Ephesus, wo Paulus so lange gewirkt hat, eigentlich undenkbar.
Diesen Merkwürdigkeiten korrespondiert, dass Markion, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. den ersten Kanon der heiligen Schriften zusammenzustellen versucht hat, diesen Brief offensichtlich als Brief nach Laodicea kennt. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass in Kol 4,16 ein Brief nach Laodicea erwähnt wird. Meint der Kolosserbrief hier etwa unseren Epheserbrief, der dann eigentlich ein Laodiceabrief wäre? Dann hätte Markion noch die ursprünglichen Adressanten gekannt und der Brief wäre tatsächlich zunächst nach Laodicea gerichtet gewesen.
Es kann natürlich auch möglich sein, dass der Brief ursprünglich gar keine Gemeinde ausdrücklich nannte. Vielleicht hatte Markion den Brief ohne Adresse vorliegen. Er hätte dann angesichts der Verwandtschaft des Epheserbriefes mit dem Kolosserbrief und aus Kol 4,16 auf Laodicea als Bestimmungsort geschlossen.
So haben sich in der Forschung drei Hypothesen entwickelt, die die Fragen um die Adresse des Epheserbriefes zu erklären versuchen.
Die erste Hypothese ist die sogenannte Enzyklika-Hypothese. Dabei wird angenommen, dass der Brief von Anfang an ohne bestimmte Adressaten war. Er sei als ein Rundschreiben konzipiert worden, das in den verschiedensten Gemeinden verlesen werden sollte. Diese These heißt auch: Rundschreibenhypothese.
Die Laodicenerhypothese geht davon aus, dass der Epheserbrief das in Kol 4,16 erwähnte Schreiben ist, also ein Brief, der ursprünglich an Laodicea gerichtet war.
Eine dritte Hypothese nimmt nun an, dass der Brief tatsächlich ursprünglich nach Ephesus gerichtet war. Dass die Adresse in vielen Handschriften fehle, das würde sich dadurch erklären lassen, dass dieselbe im Sinne einer Universalisierung des Briefes später weggelassen wurde. Auch beim Römerbrief gibt es zahlreiche Handschriften, die die Adresse weglassen, um dieses theologisch so gewichtige Schreiben mit einem universaleren Charakter zu versehen. Dass der Römerbrief aber tatsächlich an die Gemeinde in Rom gerichtet ist, daran besteht kein Zweifel. Ähnlich könnte es demnach auch beim Epherserbrief gewesen sein.
Joachim Gnilka gibt in seinem Kommentar der Ephesus-Theorie den Vorzug. Die eigenartigen Bemerkungen des Paulus über die Gemeinde in Ephesus und über ihn selbst ließen sich damit erklären, dass er den Brief ja gar nicht selber geschrieben habe, wir es also mit einem pseudepigraphischen Schreiben zu tun haben.
Zum Vergleich, mit ähnlichem Ergebnis, aber anderer Argumentation, dieses:
Der Epheserbrief gibt sich als ein Schreiben des Apostels Paulus aus, stammt aber wahrscheinlich nicht von ihm. Schon der spätneutestamentliche Wortschatz und die außergewöhnlich langen Satzgebilde mit Häufung substantivischer Kettenbildungen sprechen gegen Paulus als Verfasser, vor allem aber theologische Abweichungen: Es finden sich nur mehr schwache Anklänge an die Rechtfertigungslehre von Röm 3, vor allem aber an die Gesetzesthematik, die Kreuzestheologie tritt zurück zugunsten einer Theologie, die um Auferweckung, Erhöhung und himmlische Inthronisation Christi kreist; in der Eschatologie treten zeitliche zugunsten räumlicher Kategorien zurück, die „Kirche“ wird nur mehr als Gesamtkirche thematisiert, nicht mehr als Einzelgemeinde; das Bild des „Leibes Christi“ verliert seine paulinische paränetische Funktion. Vor allem wird nunmehr das Apostolat des Paulus selbst als Fundament verstanden (Eph 2,20; anders 1 Kor 3,11); vergessen ist die Auseinandersetzung des Paulus um seine Anerkennung als Apostel in Gal 2,1-10; seine Position ist bereits ein kirchengeschichtliches, theologisch bedeutsames Faktum.
Datiert wird der Brief zumeist auf die Jahre um 80-90 n. Chr. Der Ort der Entstehung ist unbekannt.
Während manche Zirkelschlüsse nicht überzeugen (er sei nicht echt, weil die echten Briefe ganz anders seien), und mich theologische Argumente eher lächeln lassen (Rechtfertigungslehre: man setzt voraus was Paulus schreiben müßte, ein klassischer Bias), finde ich historische Hinweise wie die auf Marcion schon sehr wichtig.
Allerdings habe ich neulich eine Hypothese gehört, die mich in ihrer Einfachheit und Stringenz sehr überzeugt - und bei der ich mich wundere, warum sie so wenig verbreitet ist.
Wer die Apostelgeschichte aufmerksam liest, wird feststellen, was für eine enorme bedeutung Ephesus für die Junge Kirche hatte. Paulus hat dort mehrere Jahre gelehrt, war später mal kurz in der Nähe und wollte nicht aufgehalten werden, so daß er nur die Ältesten der Gemeinde zu sich rief um ihnen abschließende Ratschläge zu geben - er ahnte, was auf ihn zukommen würde. Dann hat er die Gemeinde wohl nie mehr gesehen.
Den Epheserbrief schrieb er also aus einem zeitlichen Abstand heraus, womöglich im Gefängnis in Rom, an diese ihm so lieb gewordene Gemeinde.
Laut dieser Hypothese hat er sie zudem an frisch getaufte Heidenchristen geschrieben, sie sollte als Predigt in der Taufnacht, am ehesten die Osternacht, verlesen werden.
Diese recht einfache These, die zeitlich sehr gut hinhaut, erklärt vieles:
1. der hymnische Ton paßt zu einer Predigt.
2. der Inhalt ebenso: die Eingliederung in den Leib Christi, der Kirche; die verschiedenen Gnadengaben in dem Einen Leib; die verschiedenen Anweisungen für Neugetaufte, die bereits eine Katechese vorher erhalten hatten und die jetzt nur noch vertieft, nicht mehr neu aufgelegt werden mußte - all das sind klassische Taufthemen.
3. die Tatsache, daß der Adressat “in Ephesus” in den alten Handschriften nicht vorhanden ist: die alten Handschriften sind Kopien des Originals oder nahe dran, die späteren fügen ihn wegen der Zuordnung und des zeitl. Abstandes hinzu.
4. die Tatsache, daß der Text den Anschein erweckt, Paulus kenne die eigentlichen Adressaten nicht: das stimmt, er kennt in der Tat die Neugetauften nicht, er kennt aber die Ältesten und altgedienten Mitglieder der Gemeinde. Gerichtet ist er aber an die neuen Christen.
Mit dieser einfachen Hypothese lassen sich zahlreiche Hemmnisse umschiffen. Warum also schwieriger machen?
Ulrich meint:
20. December 2010Die Webseite von Ulrich
Danke, das tut gut.