Richtig verschätzt

Wer sich häufiger mal mit Statistiken beschäftigt (oder von Berufs wegen beschäftigen muß), der reagiert im allgemeinen sehr verhalten, wenn Äußerungen fallen wie “es wird geschätzt” oder “man schätzt”.
Insbesondere bei politisch brisanten Themen ist es sinnvoll, der Frage nachzugehen, wer was aufgrund welchen Interesses behauptet.

Nur drei Beispiele:

Heute las ich auf ZEIT Online den Artikel über einen Priester, der wegen Untreue zu seinem Versprechen in gefühlte Existenznot kam. Dort steht, daß “laut Schätzungen” 20% aller weltweiten Priester ihr Versprechen der Keuschheit nicht einhalten.
Natürlich steht da nicht, wer da schätzt. Nein, Schätzungen an und für sich haben anscheinend schon einen offiziellen Touch.
Und ebenso natürlich ist diese Zahl einem Vertreter einer Organisation, die sich gegen den Zölibat einsetzt, viel zu niedrig. Er glaubt an 50%. Geschätzt natürlich. Auch hier fehlen Belege.

Oder: alljährlich gehen mittlerweile mehrere Tausend Menschen in Berlin auf den Marsch für das Leben und tragen dabei 1000 Kreuze (was ich begrüße). Dabei stehe jedes Kreuz für ein Kind, das an einem Tag in Deutschland abgetrieben werde. Offiziell gibt es rund 120.000 gemeldete Abtreibungen pro Jahr, mal ein paar mehr, mal ein paar weniger. Natürlich sind das keine 1000/Tag, dann wären es ja 365.000. Aber “man schätzt” die Dunkelziffer viel höher.

Oder: in nahezu allen medizinischen Informationen, von den betreffenden Seiten auf wikipedia bis zu thematischen Infos von amerikanischen Regierungsstellen, findet man die Behauptung, daß bis zu 50% aller ungeborenen Kinder (dort dann meistens “befruchteter Mehrzeller” oder so genannt, bin ich ja auch) unbemerkt abgetrieben werden, also Spontanaborte seien.
Belege habe ich dafür nie gefunden. Auch methodisch hatte ich meine Zweifel, da man dann ja die Frauen täglich untersuchen müßte. Nach einiger Recherche fand ich dann genau zwei kleine amerikanische Studien dazu, hochwertig publiziert, die eine mit 520, die andere mit 220 Frauen, die man tatsächlich täglich untersucht hat (Schwangerschaftstest im Urin) - eine sehr kleine Fallzahl übrigens. Und wie waren die Zahlen dort? 14% bzw. 25% (übrigens die kleinere Rate bei der Studie mit mehr Frauen, was eigentlich größere Studien verlangen würde).
Die oft genannten 50% stammen aus einer kanadischen Arbeit, dort beruhen sie aber der Einfachheit halber auf einer bloßen Behauptung ohne jegliche Daten.

Was ich damit sagen will: macht die Augen auf, fragt nach, warum wer was als “Schätzung” verkaufen will - und glaubt es erst einmal nicht. Trotz eines evtl. unterstützenswerten Anliegens schadet sich letztlich jeder selbst, wenn er Behauptungen aufstellt, die auf unbelegbaren Schätzungen beruhen.





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