Nachdem ich erst kürzlich eine orthodoxe Anfrage an die Kirche des Westens zitiert habe (die von Orthodoxen in Internet-Foren auch durchaus kritisch gesehen wird und nicht die Orthodoxie repräsentiert), möchte ich bezüglich der Frage nach der katholischen (also allumfassenden) Ausübung und der Frage nach dem Wesen des Primates des Bischofs von Rom Ausschnitte aus einem längeren Vortrag vom Januar 2005 bringen, den der russisch-orthodoxe Bischof Hilarion, Bischof von Wien und Österreich, damals in Basel gehalten hat:
Zur Zeit existieren 15 Orthodoxe Landeskirchen, von denen jede in der Frage der internen Leitung vollkommen selbstständig und in keiner Weise Konstantinopel unterstellt ist. Diese Leitungsstruktur bringt eine ganze Reihe von Schwierigkeiten mit sich, von denen eine das Fehlen einer obersten Schiedsinstanz in jenen Fällen ist, wenn in kirchenpolitischen Fragen zwischen zwei oder mehreren Landeskirchen eine Meinungsverschiedenheit oder ein Konflikt entsteht. Es gibt in der orthodoxen Tradition keinen Mechanismus, der die Beilegung derartiger Meinungsverschiedenheiten gewährleisten würde. Daher wird in jedem einzelnen konkreten Fall eine jeweils eigene Lösung gesucht: Manchmal wird eine interorthodoxe Versammlung einberufen, deren Beschlüsse übrigens bloß konsultativen Charakter haben; in anderen Fällen suchen zwei Kirchen, zwischen denen ein Konflikt herrscht, eine Lösung auf dem Weg bilateraler Verhandlungen oder sie rufen einen Vermittler an.
Ein weiterer Nachteil, der durch das Fehlen eines einzigen administrativen Leitungssystems in den Orthodoxen Kirchen hervorgerufen wird, ist die Unmöglichkeit der Regelung der Frage der pastoralen Betreuung der sogenannten “Diaspora”. Der Kern des Problems besteht darin, dass das Patriarchat von Konstantinopel seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhundert das Recht der kirchlichen Jurisdiktion über jene Länder beansprucht, die nicht zu einer orthodoxen Tradition gehören, während andere Landeskirchen ihre Diaspora in Europa, Amerika und auf anderen Kontinenten haben und auf diese zu verzichten nicht gewillt sind. Als Ergebnis davon gibt es etwa in einigen Städten Europas mehrere orthodoxe Bischöfe, von denen jeder die Gläubigen seiner Landeskirche betreut. Die Frage der pastoralen Betreuung der Diaspora kann nur durch ein Gesamtorthodoxes Konzil gelöst werden. Die Vorbereitung eines solchen Konzils erfolgte ziemlich intensiv durch drei Jahrzehnte (von den Sechzigerjahren bis zu Beginn der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts), heute jedoch ist sie praktisch eingestellt - auf Grund von Meinungsverschiedenheit zwischen den Kirchen in Bezug auf die Frage, welcher der Status dieses Konzils und welche seine Tagesordnung sein soll.
Im Rahmen der Ortskirche ist der Primat des Bischofs bedingungslos und vorbehaltlos. Gemäß der orthodoxen Tradition, die auf dem theologischen Erbe der frühen Kirchenväter, insbesondere Cyprians von Karthago sowie auf späteren polemischen Schriften der byzantinischen Theologen beruht, ist jeder Bischof - und nicht nur der Bischof von Rom - ein Nachfolger des Apostels Petrus. Der bedeutende byzantinische Theologe des 14. Jahrhunderts (der sein Leben übrigens im Schoß der Katholischen Kirche beendet hat) Barlaam von Kalabrien schreibt: “Jeder orthodoxe Bischof ist ein Stellvertreter Christi und ein Nachfolger der Apostel; wenn daher alle Bischöfe des Universums vom rechten Glauben abfallen und nur einer die richtigen Dogmen bewahrt… wird in ihm der Glaube des göttlichen Petrus gerettet.” Und weiter: “Die von Petrus eingesetzten Bischöfe sind nicht nur Nachfolger Petri selbst, sondern auch Nachfolger der anderen Apostel; gleichermaßen sind die durch die anderen geweihten Bischöfe Nachfolger Petri.”
Es ist bekannt, dass schon in der Epoche der Ökumenischen Konzilien im Verständnis des Primats des Bischofs von Rom eine ernsthafte Differenz zwischen Ost und West auftrat. Im Westen verstärkte sich die Tendenz, die allmählich zur Qualifikation des Bischofs von Rom als Pontifex maximus der Universalkirche führte, der das Recht besitzt, die Beschlüsse ihrer Konzilien zu bestätigen. Im Osten betrachtete man den Papst von Rom als Vorsteher der Römischen Landeskirche und als “primus inter pares” und erachtete es nicht als notwendig, dass die Beschlüsse der Ökumenischen Konzilien durch ihn bestätigt wurden. Über dieses Thema wurden viele Forschungsarbeiten verfasst, und wir brauchen es nicht im Detail zu behandeln. Trotzdem wäre es angebracht, wenigstens in allgemeinen Zügen jenen Rahmen zu skizzieren, in dem der Primat des Bischofs von Rom von den Orthodoxen Kirchen in dem Fall anerkannt werden könnte, wenn die Christen des Ostens und des Westens sich zu einer Kirche vereinigten.
Vor allem müsste die Anerkennung des Primats des Bischofs von Rom durch die Wiederherstellung der Einheit im Glauben, der Einheit in der dogmatischen Tradition des Alten ungeteilten Kirche bedingt sein. “Es ist nicht notwendig, den Lateinern zu widersprechen, - schrieb im 15. Jahrhundert der hl. Symeon von Thessaloniki - wenn sie sagen, der Römische Bischof sei der erste; dieser Vorrang ist für die Kirche nicht schädlich. Aber sie mögen nur zeigen, dass er dem Glauben des Petrus und der Nachfolger Petri treu ist; dann soll er alle Privilegien Petri haben, dann möge er der erste sein, das Haupt aller und der oberste Bischof… Möge er nur an der Orthodoxie von Silvester und Agatho, Leo, Liberius, Martin und Gregor festhalten, dann werden wir ihn einen apostolischen Mann und den ersten der Bischöfe nennen; dann werden wir uns ihm nicht nur wie Petrus unterordnen, sondern wie dem Erlöser selbst” (PG 145, 120 AC). Der Weg zur Wiederherstellung der Einheit im Glauben liegt also im bilateralen Dialog zwischen den Theologen der Katholischen und Orthodoxen Kirche: Im Verlauf dieses Dialogs müssen nach der Meinung der Orthodoxen die Katholiken aufzeigen, dass ihr Glaube mit dem Glauben der Alten ungeteilten Kirche identisch ist.
Auch die Frage der Jurisdiktion des Bischofs von Rom über die Bischöfe der Orthodoxen Kirchen muss im Fall der Wiederherstellung der Einheit im Rahmen eines orthodox-katholischen Dialogs gelöst werden. Es wäre unverantwortlich, jetzt schon zu versuchen, die Resultate dieses Dialogs vorwegzunehmen. Die zitierten Worte Symeons von Thessaloniki zeugen sogar - so scheint es - von der Bereitschaft der Orthodoxen, im Falle der Wiederherstellung der Einheit im Glauben dem Bischof von Rom “untergeben” zu sein; wahrscheinlicher jedoch ist die Vorstellung, dass die orthodoxen Patriarchen bloß bereit sein werden, einen “Ehrenvorrang” des Bischofs von Rom zu akzeptieren, und keinen Jurisdiktionsprimat. Offensichtlich hätten die Orthodoxen keinen Einwand dagegen, dass der Bischof von Rom wie in den alten Zeiten über die Privilegien eines “primus inter pares” verfügen und vielleicht sogar gewisse Koordinationsfunktionen im Rahmen der Universalkirche ausüben würde. Kaum jedoch wären sie zur Anerkennung des Papstes als einziges Oberhaupt der universalen Christenheit bereit, was ja der gesamten jahrhundertealten theologischen Tradition der Ostkirche widerspräche.
Soweit größere Auszüge. Nur als Info.