Darf ich in einer Rede nicht sagen, was ich denke?
So (naiv?) fragt heute Sibylle Lewitscharoff in einem Interview mit faz.net, bezugnehmend auf die äußerst harschen Reaktionen auf ihre Rede in Dresden (hier komplett als .pdf-Datei nachzulesen).
Erst einmal erntet sie eine Menge Widerspruch. Damit muß sie rechnen, Rede und Gegenrede gehören zusammen.
Doch das mehrheitliche Niveau des Widerspruchs zeigt mal wieder zweierlei:
a) wir leben gesellschaftlich nicht mehr in einer aufgeklärten Demokratie mit Grundrechten, sondern in einer aufgeschreckten Empörokratie mit Maulkörben (siehe auch die Verhinderung der Buchpräsentation von Sarrazin).
b) Wichtig ist nicht, was gesagt wurde, sondern bloß daß ein paar Stichworte gefallen sind - denn die Mühe, eine auch nur ein paar Seiten eines Redemanuskriptes zu lesen, macht sich in den Zeiten, wo das Dschungelcamp schon feuilletontauglich geworden ist, nun wirklich kaum noch jemand. Darf man das überhaupt noch voraussetzen oder erwarten? Kontext - was für’n Text? Aussageabsicht - häh?
Es geht nicht darum, daß Fr. Lewitscharoff jetztAnspruch darauf hätte, daß jetzt alle brav “Amen!” sagen und murmeln “stimmt, die Frau hat so Recht, die Gesellschaft ist wirklich aus dem Ruder gelaufen”- bei einer Rede mit dem Thema Tierschutz oder so wäre das vielleicht möglich gewesen.
Doch nicht dabei!
Hallo!
Es geht um SELBST-Verwirklichung!
Die Heilige Kuh des Hedonismus!
Es geht um das infantile (Eltern kennen es von Kindern so ab 3 Jahren) “Ich will aber!” des postmodernen Ego-Utilitaristen.
So etwas rührt man doch nicht an, wenn man medial überleben will!!!
Gut, wer die ganze Rede liest, muß schon beim IQ unter einer Bananenschale geblieben sein, wenn er der Frau noch Hetzerei und Menschenverachtung vorwirft, aber leider gibt es nicht weniger solcher Landsleute, die in Print-und Online-Medien veröffentlichen.
Und die Büchner-Priesträgerin hätte genau dasselbe sagen können mit anderen Worten, ohne daß so ein Shitstorm losgetreten worden wäre. Aber wer eine Diplomatenrede hören wil, soll Diplomaten einladen.
Also, was lernen wir mal wieder aus dieser neuen medialen Empörung, die durchs Dorf getrieben wird?
Die Gesellschaft ist nicht toleranter geworden als vor 100 Jahren - sie nutzt zwar nicht mehr den Arm des Gesetzes, sondern den Arm der vierten Macht im Staat; nicht mehr Körperverletzung, sondern Ehrabschneidung und Rufmord; nicht mehr Berufsverbot von oben, sondern - warten wir’s mal ab in diesem Fall - faktisches Berufsverbot von unten, von seinesgleichen.
Gast auf Erden meint:
15. March 2014Die Webseite von Gast auf Erden
Es geht um SELBST-Verwirklichung!
Die Heilige Kuh des Hedonismus!
Früher wurde man eben vom Herrn Pfarrer, oder vom Herrn Lehrer verwirklicht. Das hat nicht allzu gut funktioniert; außer für Pfarrer und Lehrer natürlich. Deswegen machen das die Menschen heute eben selbst. Das funktioniert zwar für den Herrn Pfarrer und den Herrn Lehrer schlechter, für die anderen dafür um so besser.
Vielleicht sollte Sie mal den Film “Das weisse Band” von Oscar Preisträger Michael Haneke anschauen. Dann wissen Sie warum das mit der Fremdverwirklichung nicht funktionieren konnte. Und warum Selbstverwirklichung mit Hedonismus so viel zu tun hat wie die römisch katholische Kirche mit, na Sie wissen schon.
Da ist das prachtvolle Gehabe der katholischen Kirche viel hedonistischer als alles andere.
Ralf meint:
17. March 2014Die Webseite von Ralf
Wenn Sie mir jetzt noch erklären, was Ihr Kommentar mit meinem Beitrag zu tun hat, dann könnte ich ggf. darauf eingehen.
Susann meint:
28. March 2014Die Webseite von Susann
Ich habe die Rede ganz gelesen und fand sie tatsächlich ziemlich verächtlich im Ton und abstoßend wegen der Sippenhaft, die die Gute da so locker walten ließ. Ein Kind, egal wie es gezeugt wurde, KANN NICHTS DAFÜR, wie es zustande kam. Man kann dem Kind eines Vergewaltigers nicht vorwerfen, dass es aus einer Vergewaltigung entstand. Man kann einem Kind, das Ergebnis einer In-Vitro-Fertilisation ist, nicht erklären, dass es ein “Halbwesen” ist. Und wenn es der Frau nicht gelingt, ihr infantiles Schaudern (”Ih! Bäh!”) durch rationale Argumente zu überwinden, soll sie es wenigstens für sich behalten. Ich arbeite jeden Tag mit Kindern und würde nicht im TRAUM darauf verfallen, über ihre Herkunft zu spekulieren (”in vitro oder echt Mensch?”) und sie danach zu beurteilen. Im Gegenteil, ich versuche bewußt, den Menschen zu sehen, der jetzt gerade vor mir steht. Kann ich Frau L. nur empfehlen.
Die Idee, dass das Kind unter dem Getratsche seiner Nachbarn leiden könnte, offenbart ein sehr verqueres Menschenbild. Ich kann mich nicht erinnern, in 20 Erwachsenenjahren jemals dieses Thema betratscht zu haben. Damit werde ich ja wohl nicht alleine sein.
Dass Frau L. panisch wird, weil nicht wie bis vor Kurzem der Mann über den Körper der Frau weitgehend nach Belieben verfügen konnte, sondern sie selbst Entscheidungen treffen kann, erscheint mir absurd.
Die Abwesenheit der Väter ist ein massives Problem, aber das einer handvoll von lesbischen Müttern zum Vorwurf zu machen, erscheint…gewagt. Es gibt genug Baustellen, z. B. jeden einzelnen Fall, in dem ein Mann vom Acker macht und nur mehr sporadisch an seinen Kindern interessiert ist. DA liegt der Schwerpunkt, nicht auf ein paar Lesben mit Kinderwunsch.
Frau L. klang wie ein Mensch, der sehr unzufrieden mit sich ist und ein “Päckchen” aus seiner persönlichen Lebensgeschichte heraus zu tragen hat - und durch diese Linse auf die Welt blickt, irgendwo zwischen resigniert, pessimistisch und zutiefst sauertöpfisch. Sehr christlich klang das alles nicht, wenn das “christlich” sein soll, dann bestätigt mich das (wie so vieles) in meiner vor Jahren getroffenen Entscheidung, aus der katholischen Kirche auszutreten.
Ralf meint:
1. April 2014Die Webseite von Ralf
Hallo Susann,
erst einmal wäre die Rede von Frau L. ein schlechter Grund, aus der Katholischen Kirche auszutreten - die Frau ist evangelisch.
Dann bin ich der felsenfesten Überzeugung, daß nur Jesus Christus und die Lehre der Kirche Gründe sein dürfen, aus einer Gemeinschaft aus- oder in sie einzutreten. Menschen sind zu fehlbar - nur wer auf den Herrn baut, baut auf festen Grund.
(Aber da Du nicht an Jesus als Sohn Gottes glaubst, ist das ja eh hinfällig)
Daß die kritischen Punkte dieser Rede nicht der Ratio geschuldet sind, wie die Rednerin selbst sagt(!), habe ich ja schon thematisiert. Es ist eine bewußte Überzeichnung, eine bewußte Provokation. Ich halte das für legitim - und kenne übrigens noch keine Stellungnahme von Betroffenen (es gibt schon in-vitrp-gezeugte Menschen, die volljährig sind). Fremdschämen muß ja nicht sein.
Was die Zahl angeht, so halte ich das allerdings für ein seltsames Argument. Ich bin bspw. strikt gegen das zu Tode spritzen von Kranken (und zumeist alten Kranken), auch wenn ich weiß, daß die Zahl der in Pflegeheimen Mißhandelten Alten und alten Kranken höher sein mag. Nur weil das eine Schlimme häufiger ist, darf man nicht beim anderen Thema Redeverbot erteilen. Seine prioritäten setzt ja jeder selbst.