Keine gemeinsame Basis

Diese Tage lese ich mich gerade durch ein ein paar Jahre altes Buch mit theologischen Beiträgen zur gesellschaftlichen bioethischen Debatte, alles alles rund um “Recht auf Nicht-Leiden”, “wann beginnt der Mensch”, Personenbegriff etc.
Dabei werden natürlich auch die Grundpositionen der säkularen Ethiker angesprochen und dargelegt (wenn auch nicht so möglichst objektiv wie bei der scholastischen Methode).

Bei all dem fällt mir folgendes auf:

es sind alles nur - Meinungen.

Da behaupten die einen, der Mensch beginne erst mit der Fähigkeit, sich selbst zu versorgen. (Meinung A)
Andere stimmen grundsätzlich zu, setzen diesen Punkt aber aus praktischen Erwägungen mit der Geburt an (allerdings gibt es natürlich keinen sich selbst versorgenden Neugeborenen, aber das wird vernachlässigt). (Meinung B)
Andere wiederum - wie auch mal der sehr geschätzte Mitblogger Josef Bordat und ebenso geschätzte Ethiker wie Prof. Schockenhoff - führen das Potentialitätsargument an und sagen, entscheidend für die aktuell Beurteilung eines Wesens sei das, was aus ihm werden könne, wenn diese Entwicklung nicht behindert wird. (Meinung C)
Ganz andere lehnen es generell ab, der menschlichen Spezies eine ethische Sonderrolle zuzugestehen und halten die grundsätzliche Gleichsetzung der Würde für Mensch und Tier für den Normalfall (Meinung D), was dann wiederum durch individuelle Fähigkeiten zu unterschiedlichen Wichtungen führe (Meinung E).

Sicher gibt es auch noch zahlreiche andere Meinungen, aber: alles das sind einfach hingeworfene Meinungen, mal mehr mal weniger kunstvoll in langen Sätzen mit aufwendiger Grammatik versteckt, mal mehr mal weniger aufwendig nachträglich durch Argumentationsketten gestützt. Ein penetrantes Fragen nach dem “warum eigentlich” würde bei jeder der genannten Meinungen letztlich zu dem Schluß führen “weil ich das so meine”, mehr nicht. Also warum ist die Fähigkeit zur Eigenversorgung entscheidend, warum das Potential, warum sind prinzipiell Tiere und Menschen gleich viel wert, warum, warum, warum. Es sind halt Meinungen.

Das christliche Argument, daß der Mensch Ebenbild Gottes ist und er uns schon im Mutterleib geformt hat - wenn er also mich geformt hat, war ich schon von Beginn an Person - fehlt (nicht in dem Buch, aber in der gesellschaftlichen Debatte). Aber ehrlicherweise ist auch das in den Augen Nichtglaubender bloß eine Meinung mehr …

Ich sehe auch keine Möglichkeiten, diese hermeneutischen Ansätze - einmal nur innerweltlich, einmal das Transzendente einschließend - irgendwie miteinander in Einklang zu bringen. Letztlich sind wir bei dem Punkt, über den Habermas und Ratzinger 2004 in Münschen sprachen. Wenn alles dikutierbar ist, wie Habermas prinzipiell einfordert, dann entscheiden nicht mehr die Argumente, sondern die Macht - deswegen wünscht er sich auch den “herrschafftsfreien Diskurs”, also etwas ungefähr so realistisches wie Gottes Reich auf Erden.

Gerade die Bioethik ist der anschaulichste Fall dafür, daß die ethischen Debatten den Strukturen der Macht folgen. Die Reihenfolge ist nicht: was dürfen wir tun und dann schauen wir, wo die Grenzen des Machbaren sind - sondern umgekehrt: was können wir tun und wie weiten wir das aus, was wir tun dürfen, damit wir immer weiter gehen und letztlich Profit winkt. Unverfügbarkeit gibt es schon lange nicht mehr.





7 Kommentare zu “ Keine gemeinsame Basis”

  1. Imrahil meint:


    Die Webseite von Imrahil

    Wenn ich korrigieren darf, das Reich Gottes auf Erden ist zumindest im Vergleich mit diesem herrschaftsfreien Diskurs ohne gemeinsamem Dogma realistisch…

    aber andererseits - ist das auch nur eine Meinung - kann man nicht sagen, wenn man überhaupt keinen Menschen töten darf, dann darf man auch alles das nicht töten, was möglicherweise ein Mensch sein könnte? Ein Jäger, der nicht weiß, ob ihm jetzt ein Hirsch oder ein Elch entgegenkommt (Annahme: der Elch ist geschützt), weil er nur das Geweih sieht - unrealistisch, ich weiß - darf doch auch nicht schießen.

  2. Ralf meint:


    Die Webseite von Ralf

    Das Reich Gottes auf Erden findet sich nur in Christus, eine politische Realisierung ist nicht möglich (von wegen gefallene Natur des Menschen und so). Es kann in dem, der in Christus ist und in dem Christus ist, Gestalt annehmen, doch daraus läßt sich kein politisches Programm ableiten.

    Und wenn ein Jäger nicht sicher ist, daß er auf einen Hirsch zielt - ja, der sollte nicht schießen (und zum Sehtest gehen). Wenn natürlich ein Mensch mit Karnevalsgeweih im Wald zur Jagdzeit rumläuft, trifft ihn eine gute Portion Mitverantwortung …

  3. Josef Bordat meint:


    Die Webseite von Josef Bordat

    Naja, lieber Ralf, ich denke schon, dass es für die Potentialitätsauffassung (hier: Meinung C) nachvollziehbare Argumente gibt (sonst würde ich sie ja nicht vertreten).

    Der Mensch (das wissen Sie als Mediziner viel besser als ich) entwickelt sich in seiner Ontogenese nicht zum Menschen (wie man früher vielleicht mal meinte), sondern als Mensch. Er ist schon Mensch, von Anfang an. Die Genetik gibt der Auffassung Recht, dass der Mensch im Mutterleib schon geformt ist (ob von Gott oder der „Natur“, das ist Glaubenshaltung und spielt für die Achtung vor dem vollständig geformten Menschen keine Rolle bzw. sollte es nicht, wenn man die Ehrfurcht vor Gott bzw. der „Natur“ ernst nimmt). Das christliche Menschenbild „fehlt“ dabei nicht, sondern es ist ja gerade der Grund für die Annahme der Potentialität ungeborenen menschlichen Lebens.

    Menschliches Leben ist zu schützen, unabhängig vom Entwicklungsstand - das wiederum ist keine abstruse Sondermeinung religiöser Fanatikern, sondern vom BVerfG mehrfach bestätigtes deutsches Verfassungsrecht. Das zu betonen, ist eben auch wichtig, weil doch oft der Eindruck entsteht, Lebensschutz sei nur was für christliche Fundamentalisten. Nein: Unsere Gesellschaft basiert darauf!

    Im Zusammenhang mit PID bedeutet das übrigens: „Die Legalisierung der PID wäre nicht nur ein Verstoß gegen die Menschenwürde, das Lebensrecht und das Diskriminierungsverbot Behinderter, also gegen die ersten drei Artikel des Grundgesetzes, sondern auch eine Aushöhlung der Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, die auf die Symmetrie der Beziehungen zwischen den Menschen angewiesen ist.“ Sagt Manfred Spieker. Ganz ohne religiöse Konnotation, gleichwohl mit dem christlichen Menschenbild im Rücken. Und diese Argumentation fußt eben doch nicht nur auf einer bloßen Meinung, die man morgen ändern könnte. Sie stützt sich auf etwas, das die Basis unseres Gemeinwesens ist: das Grundgesetz.

    Meine eigene Sicht auf die PID habe ich hier dargelegt:
    http://jobo72.wordpress.com/2011/05/25/bitte-stimmen-sie-fur-ein-pid-verbot/

    Herzliche Grüße,
    Ihr
    Josef Bordat

  4. Josef Bordat meint:


    Die Webseite von Josef Bordat

    Kleine Ergänzung.

    Ich meinte freilich: Das christliche Menschenbild „fehlt“ dabei nicht, sondern es ist bei mir und (soweit ich seine Schriften kenne) auch bei Schockenhoff gerade der Grund für die Annahme der Potentialität ungeborenen menschlichen Lebens.

    Es kann selbstverständlich auch andere Annahme geben, die zur Potentialitätsthese führen. Das christliche Menschenbild ist dafür nicht notwendig, wohl aber - so meine ich - hinreichend.

    LG, JoBo

  5. Ralf meint:


    Die Webseite von Ralf

    Hallo Josef (wird im Netz nicht geduzt?)!

    Daß aber der biologische Menschenbegriff die Grundlage der ethischen Einordnung sein soll - ist eben eine Meinung. Du scheinst das noch nicht einmal zu hinterfragen! Schließlich gibt es auch biologische Erkenntnisse, die wir keinesfalls für ethisch gut erachten (so die bei Naturvölkern verbreitete Kriegslust, die sich auch bei Schimpansen finden läßt und somit auf enie biologische “Normalität” hinweist).

    Kann die Biologie also die Ethik determinieren? Und wenn ja, wer entscheidet wann ja, wann nicht? Außerdem ist “Ehrfurcht” kein wirklich rationell-ethische Kategorie, das führt uns nicht weiter.

    Ich teile ja vollkommen Deine Schlußfolgerung über die Würde des Menschen, will aber darlegen, daß wir letztlich ohne Offenbarung aus dem Widerstreit der Meinungen als solche nicht herauskommen.

    Manfred Spieker argumentiert nicht ethisch, sondern juristisch (mit dem GG) und sehr wohl religiös (eben mit dem christl. Menschenbild, wie du selbst sagst).

  6. Josef Bordat meint:


    Die Webseite von Josef Bordat

    Lieber Ralf,
    ja, im Netz wird (fraglos!) geduzt. Ob das gut zu finden ist, wäre eine eigene Debatte wert. Aber es ist schon OK! ;-)

    Zur Sache:
    Grundsätzlich ist klar, dass jede Aussage erstmal eine Meinung ist. Ich will da jetzt nicht in haarspalterische Diskussionen über Theorien, Tatsachen, Wirklichkeit und Wahrnehmung einführen (obwohl das eigentlich genau mein Job ist), das bringt wenig bis gar nichts. Platon, Berkeley, Descartes, Kant u.v.a.m. haben dazu Beiträge geleistet, man muss das nicht immer aufkochen.

    Ich will stattdessen meine Meinung begründen oder zumindest erläutern.

    1. Biologie und Ethik
    Ich denke gerade nicht, dass biologische Begriffe die Grundlage sind - ich sage nur, dass sie die religiösen Begriffe ergänzen, ihnen zumindest nicht widersprechen. Wir müssen die Biologie zur Kenntnis nehmen, ohne Biologisten zu werden. Wir müssen die natura humana im Sinne Thomas’ deuten, d.h. eben schöpfungstheologisch, biblisch, christlich. Das bedeutet, dass der Mensch Körper, Seele und Geist besitzt - und eben nicht nur Körper. Das unterscheidet ihn auch vom Tier: die Fähigkeit zur Einsicht in die moralische Notwendigkeit. Das ist was anderes als Sozialverhalten. Ethik zielt auf die begründete Verallgemeinerbarkeit von moralischen Grundsätze, ist also normativ, nicht bloß beschreibend. Sie setzt ein Sollen, dass nicht immer dem Sein entspricht. Hier sehe ich eine prinzipielle Differenz zwischen christlicher Ethik und Soziobiologie.

    2. Ehrfurcht und Rationalität
    Selbstverständlich sind Affekte wie “Ehrfurcht” und “Achtung” rationalisierbar, weil sie sich empirisch zu erkennen geben. Kant sprach noch davon, dass er angesichts des Moralgesetzes in ihm (bzw. angesichts dessen Erkenntnis) zu Tränen gerührt war. Heute weiß man aus Studien, dass wir (also unsere Körper) in einer bestimmten Weise reagieren, wenn uns Gefühle wie Zuneigung, Empathie, Mitleid etc. bewegen[sic!]. Warum werben denn Hilfsorganisationen mit Bildern und nicht nur mit Zahlen? Warum steigt das Spendenaufkommen nach Katastrophen und fällt dann rapide ab (obwohl das Geld meist erst später gebraucht wird)? Warum wird einem “schlecht”, wenn man bestimmte Bilder von Gräueltaten sieht? - Im übrigen kann ich die Diskursfähigkeit von “Offenbarung” ebenso in Frage stellen (ohne die wir auch meiner Ansicht nach nicht auskommen, “natürlich” nicht!). Denn da braucht man bloß zu sagen: “Das ist deine Offenbarung, nicht meine!” Das geht beim moralischen Gefühl (das nicht schon deswegen, weil es Emotion ist, irrational sein muss - es gibt sehr vernünftige Gefühle!) nicht so einfach.

    3. Moral und Recht
    Ich sehe da keine scharfe Trennlinie. Zwar hat Kant die Sphären von Moralität und Legalität getrennt, aber wir müssen doch sehen, dass es - zumal im Verfassungsrecht und da insbesondere bei den Grundsätzen - vielmehr um Moralvorstellungen geht als um Rechtsordnung. Aber eben auch um diese. Das ist doch das Schöne am Grundgesetz: Moral, die verbindlich Gestalt annimmt! Wer mit dem Grundgesetz (z.B. dessen Würdebegriff) argumentiert, spricht nach meinem Dafürhalten immer auch aus moralischer Sicht. Daher gehört das durchaus in den ethischen Diskurs. - Eher juristisch wäre eine Argumentation mit dem StGB oder dem Embryonenschutzgesetz (obwohl auch hier in beiden Fällen Moralvorstellungen eingetragen sind - es gibt ja keine Norm, die über eine konventionelle Regelung hinausgeht, die nicht irgendwo ihre Rückbindung in Moralvorstellungen hat; diese Vorstellungen auf “Rechtsordnungstauglichkeit” zu untersuchen, ist ja gerade die Aufgabe der normativen Ethik, Stichwort: Verallgemeinerbarkeit).

    Ich glaube, lieber Ralf, wir sind uns in der Sache einig, aber nicht in der Möglichkeit und in der Methodik, diese Sache zu vermitteln. Kann man das so sagen?

    Wie gehst Du persönlich in Gespräche mit Nicht-Christen hinein? Welche Erfahrungen hast Du gemacht? Siehst Du überhaupt eine Chance für einen (fruchtbaren) Dialog, der nicht nur Meinungsaustausch ist?

    LG, Josef

  7. Ralf meint:


    Die Webseite von Ralf

    Hallo Josef,

    wir teilen zwar die Be-urteilung, aber der Weg dorthin ist wohl ein anderer.

    ad 1.: wir müssen die Biologie beachten, sicher, aber warum ist sie ethisch determinierend? Du schreibst zwar, daß wir die Biologie christlich deuten müssen, aber das Potentialitätsargument ist nicht religiös, da die Potenz Gott ziemlich schnuppe ist.

    ad2.: “Erfurcht” und “Achtung” sind nicht rationalisierbar, weil sie empirische Beobachtungen darstellen. Empirie ist keine Kausalität. Die Zahl der Storchpaare und die der Menschenkinder ist seit den 70ern parallel zurückgegangen. Was bedeutet diese empirische Beobachtung (dieses Beispiel ist das bekannteste der Statistiker)? Man kann diese Beobachtungen provozieren (Bilder armer Kinder), oder auch die Provokation verhindern wollen (Bilder ungeborener Kinder für werdende Mütter, richtige Aufklärung ist ja nicht gewollt), aber das macht sie nicht rationalisierbar.
    Und ja, ich halte die Diskursfähigkeit der Offenbarung für zunehmend kritisch, je mehr ich den riesigen Abgrund überblicke, der die Anthropologien von Christen und Nichtchristen trennt.

    ad 3.: das GG ist voller christlicher Werte (u.a. dank Kardinal Höffner), das ist auch gut so. Diese werden ja impolitischen Diskurs schon mal als Wert an sich deklariert, um möglichst keine Religion ins Spiel zu bringen. Mir ist das auch egal, da es mir darauf ankommt,daß esfür den Menschen gut ist. Aber albern ist das natürlich. Recht bedeutet immer Moral, und bei uns ist sie zutiefst christlich geprägt. Noch - die Reise geht eindeutig davon weg, und zwar bislang unaufhaltsam.

    Wie ich ins Gespräch mit Nichtchristen gehe? Ich gebe Zeugnis ab, auch auf die Gefahr hin lächerlich zu wirken. Ich versuche mich eines Urteiles zu enthalten, auch wenn eine andere Meinung als der Mainstream schon als Urteil angesehen wird (was nicht intendiert ist). Zu überzeugen versuche ich nicht,schließlich ist der Glaube ein Geschenk der Gnade. Und außerdem bin ich Franziskaner (bzw. versuche es täglich zu sein).


Dein Kommentar