Fremdbestimmung
Viele Jahre übe ich den ärztlichen Beruf ja noch nicht aus, aber eines fängt an, mich immer mehr zu stören: das juristisch verankerte Ur-Mißtrauen, von dem ich übrigens überzeugt bin, daß es einer der Hauptgründe für die imer weiter steigenden Kosten ist (nicht umsonst sind uns nur noch die USA voraus, die Klagen und Schadensersatzusprüche übertreffen ja die unsrigen (noch!) an Größe und Skurrilität).
Was meine ich damit? Also, rein rechtlich gesehen ist absolut jeder ärztliche Eingriff, der über das Abhorchen mit dem Stethoskop hinausgeht, eine Körperverletzung. Diese Ansicht wird damit begründet, daß das im Grundgesetz verankerte Recht auf Körperliche Unversehrtheit durch den ärztlichen Eingriff verletzt wird - daher ist jeder noch so kleine Eingriff genauestens zu begründen und vor allem zu dokumentieren. Konsequent durchdacht müßte ein Arzt mindestens 24h vor jeder Blutabnahme ein ausführliches und gut dokumentiertes Auflärungsgespräch führen, mit allen Vor- und Nachteilen, die diese Blutabnahme evtl. oder sicher nach sich zieht. Gott sei wirklich Dank, daß die hiesigen Richter in solchen Alltags-Détails ihr Hirn bisher nicht komplett abschalten und der Realität den Vorrang lassen (sorry, aber diese potentielle Kriminalisierung meines alltäglichen Tuns, das ich selbst immer wieder rechtfertigen muß, halte ich für reichlich hirnlos).
Gut, diese höchstrichterliche Sichtweise erscheint ja erst einmal kohärent. Doch der ganzen Sache liegt ein fundamentaler Fehler zugrunde: es wird dadurch suggeriert, des Patienten körperliche Unversehrtheit sei vor dem Besuch des Arztes gewahrt gewesen - genau dies ist ja fast nie der Fall (Vorsorge, Impfung und Wahleingriffe mal abgesehen). Der Arzt wird mit einem bereits in seiner Leiblichkeit verletzten Menschen konfrontiert, des Arztes Maßnahmen haben ja gerade das Ziel, eine Unversehrtheit möglichst wiederherzustellen bzw. zu wahren oder ihr nahe zu kommen. Nichts anderes tun die allermeisten Ärzte tagtäglich mit hundertausenden Überstunden. Deutsche Richter dagegen unterstellen uns pauschal anderes, weil sie aus mir absolut unerklärlichen Gründen davon ausgehen, es kämen ständig nur körperlich unversehrte Menschen zum Arzt (bspw. in der Unfallchirurgie eine besonders groteske Vorstellung).
Daß so eine Rechtssprechung natürlich aus reinem Selbstschutz ein Unmaß an “forensicher Medizin” nach sich zieht, also Doppel- und Dreifachuntersuchungen, nur damit man sich ggf. vor Gericht absichern kann, damit man sagen kann, man habe doch alles gemacht, ist glasklar.
Wer, und das sage ich schon seit längerem und immer wieder, wer die Kosten im ambulanten wie stationären Bereich auf einen Schlag deutlich senken will (von prozentualen Prophezeiungen halte ich nicht viel), der muß dieses vollkommen verquere Arzthaftungsrecht ummodellieren. Das Schönste an der ganzen Aktion wäre: es täte keiner Lobbygruppe weh und ist daher sogar machbar.