Fülle
Es gibt ja gar nicht so wenige kirchenverbundene Menschen, die meinen, “der Vatikan” oder “Rom” (oder “Ratzinger”) habe die Befreiungstheologie verboten. Diese wiederum teilen sich in zwei Gruppen: die, die das super finden und die, die das super doof finden.
Nun, beide irren. Die Befreiungstheologie wurde mitnichten verboten. Das kann schlechterdings auch nicht sein, da die Begriffe Erlösung und Befreiung auch synonym gebraucht werden können (auch wenn man das vorab erklären muß).
Ja, es gab und gibt manches Mal problematische Aspekte der Theologie der Befreiung (TdB) bzw. ihrer Methodologie, aber das Grundanliegen ist total katholisch. Heutzutage ist ihr Hauptproblem in Lateinamerika eher, daß die Hauptzielgruppe, die Armen, sich scharenweise den Pfingstlern und anderen Evangelikalen zuwenden, die nun wirklich alles andere sind als befreiungstheologisch. Das Buch ist von 1990, da sah das noch ein wenig anders aus.
Worum geht es der Befreiungsthologie und warum gefällt sie mir? Vor allem sind dies drei Punkte:
1. während in der “klassischen” Theologie die Caritas und Diakonie eher so dargestellt wird, daß “die Kirche den Armen hilft”, daß also die Kirche bzw. ihre Gläubigen als Subjekte den Armen als Objekte hilft, verändert die TdB die Sichtweise komplett: die Armen werden selbst verantwortliche Subjekte, auch Subjekte ihres Schicksals, das sie selbst beeinflussen und in die Hand nehmen können und sollen und dazu befähigt werden sollen. Denn die Armen sind oftmals genau Teil dieser Kirche - aber auch wenn nicht, sind sie immer(!) Ebenbilder Gottes. Des Gottes, der selbst um unseretwillen arm wurde.
2. die Theologie ist ein zutiefst praxisbezogene Theologie. Dies fängt damit an, daß alle aktiven Theologen dieser Ausrichtung in Basisgemeinden aktiv sind, lebendigen Kontakt zu denen haben, um die es geht, den Armen. Akademische Gedankenspiele finden quasi nicht statt und finden ihr Korrektiv immer im gelebten Glauben.
3. Und für mich am wichtigsten: das Hauptanliegen ist, auch wenn dieses Schriftzitat nicht im Buch genannt wird, aber das ist meine Zusammenfassung, ein Umsetzen des Wunsches Jesu, daß alle das Leben in Fülle haben sollen (Joh. 10,10). Es gibt sogar Übersetzungen (Elberfelder bspw.), die von “Überfluß” sprechen. Was bedeutet das im lateinamerikanischen Kontext, im Kontext von ökonomisch Marginalisierten, auch wenn sie die Bevölkerungsmehrheit stellen? Was bedeutet es, wenn man keinen Grund erwerben kann mangels Ressourcen, wenn man keine sicheren Jobs haben kann, wenn es keine guten Schulen gibt, wenn Frauen Freiwild sind - dann bedeutet Fülle als Ziel genau diese Mißstände abzustellen. Ein leerer Magen oder ein mißhandelte Seele kann nicht einfach ein Leben in Fülle haben!
Für andere Marginalisierte in anderen Kontexten bedeutet Befreiung dann etwas je anderes - so haben sich die TdB in Asien und Nordamerika auch anders entwickelt.
Und hier bei uns? Wie kann eine TdB bei uns aussehen? Wenn ich sie vom Gesichtspunkt der Befreiung Marginalisierter sehe, dann sehe ich da wenig Anhaltspunkte. Wenn ich sie aber von Gesichtspunkt der fehlenden Fülle her betrachte, dann findet sich schnell etwas, nicht wahr?
Was fehlt denn den Christen hierzulande für ein Leben in Fülle, ein Leben im Überfluss? Das Materielle ist wohl eher nicht …
Es ist in meinen Augen - und da nehme ich mich überhaupt nicht aus - die Freude.
Eine Theologie der Befreiung in Deutschland müßte meines Erachtens nach eine Theologie der Freude sein! Wie sie dann auch aussehen und gelebt werden mag - was uns am meisten fehlt ist Freude!